Vielleicht wird man in einhundert Jahren auf die ersten beiden Jahrzente dieses Jahrtausends zurückblicken und sich denken: Damals hat alles angefangen mit der Selbstvermessung. Vielleicht beugt man sich über die elektronische Abrechnung der Krankenkasse und ärgert sich, dass man das Saldo von 300.000 Schritten für diesen Monat nicht erreicht hat und deshalb ein paar mehr Euro an Beitrag zahlt.
Zukunftsmusik – geschenkt. Ganz aktuell und realistisch traf sich am vergangenen Montag das sog. Quantified Self Meetup Cologne in unseren Räumen, um sich auszutauschen und sich selbst und andere über das trendende und komplexe Thema der Selbstvermessung zu informieren.
Dazu gab es vier kurze Vorträge, die hier kurz paraphrasiert werden sollen. Den Einstieg machen die beiden Organisatoren Nana und Andreas, indem sie uns begrüßen, ihren Sponsoren danken und – Interaktion soll heute nicht zu kurz kommen – eine kurze Vorstellungsrunde machen. Hier zeigt sich, wie groß das Interessenspektrum am Thema ist. Im Publikum sitzen Programmierer, Ergotherapeuten, Wissenschaftler, Studenten – und die Presse.
Eine kleine Geschichte des Quantified Self
Danach gibt Nana einen kurzen Überblick über Philosophie und Geschichte des QS. Für ihn ist es eine auf sich selbst bezogene Kulturtechnik mit individuellen Regeln – denn Nana findet, dass alle Menschen prinzipiell unterschiedlich sind. Besonders physiologisch. Insofern trackt er sein Schlafverhalten, seine Fitness, seine Gesundheit, seinen finanziellen Haushalt und seine Stimmung. Das hat bereits im Jahr 2000 angefangen – und zwar auf Papier! Trainingspläne und Gewichtsverläufe hat es quasi schon immer gegeben und gewissermaßen fing Quantified Self so an, ohne jedoch diesen Namen zu tragen.
Ab 2005 übernahmen Sensoren die Eintragung der Daten und 2008 gab es erste Meetups in den USA zum Thema. Seitdem (insbesondere dank Smartphones) ist die Anzahl der verfügbaren Sensoren explodiert. Das erlaubt weniger aktive Messungen (die man sowieso stets vergisst) und mehr passive Datenerhebung.
Dadurch hat Nana zum Beispiel herausgefunden, dass sein Gewicht und sein subjektives Stresslevel korrelieren. Sprich: Wenn er Stress hat, nimmt er zu. Das zeigte sich, als er seine Daten über einen langen Zeitraum sammelte und auswertete. Seine Utopie sei letztlich: Eine individuelle Medizin, die auf den einzelnen Patienten zugeschnitten wird. Und keine Standardrezepte mehr kennt.
Nach Schlaganfall dem QS verfallen
Andreas erzählt danach seine Geschichte. Der Mathematiker muss seit seinem Schlaganfall 2009 sehr genau auf seine Gesundheit achten – und Quantified Self hilft ihm dabei. Er erhebt insofern Daten über sein Gewicht, seine Schritte pro Tag, seinen Kaffee- und Teekonsum und besonders seinen Blutdruck. Bloß beim Schlafverhalten gibt es leichte Unschärfen, wenn nachts der Hund aufs Bett springt und das Smartphone glaubt, Andreas würde wild herumzappeln.
Sein Arzt freut sich jedenfalls über die Daten, die Andreas ihm in die Sprechstunde mitbringen kann. Denn der Mediziner kann auf dieser Grundlage die optimale Medikation für seinen Patienten wählen.
Andreas‘ tägliches Ziel heute: 15.000 gemessene Schritte am Tag. Auch, wenn das eine Extrarunde mit dem Hund bedeutet.
QS erzählt Geschichten
Chantal Pannaccis Story ist vielleicht die prototypischste Karriere einer Selbstvermesserin. Anfangs skeptisch, wollte sie zum Beispiel auf gar keinen Fall ihre Laufdaten online sehen, wählte ihre Laufstrecken aber zum Beispiel auch nach ihrer ästhetischen Qualität: „Da soll später auf der Karte nicht einfach so ein Strich sein, sondern ein schöner Kreis!“
Letztlich kapitulierte sie aber angesichts des Funktionsumfangs und Komforts, den smarte Gadgets (z.B. Fitbits, Withings-Waagen) und Onlinedienste (z.B. myfitnesspal) bieten. Immerhin sorgte das QS-Ökosystem für eine Ernährungsumstellung: „Weniger Nutella, mehr Grapefruit!“
Und dann? Dann kam Ingress. Das Augmented Reality-Spiel, findet Chantal, lässt einen zwar hochmotiviert enorme Strecken laufen (gesund!), dafür entfällt jedoch der meditative und inspirierende Charakter eines Spaziergangs, da man ja ständig mit dem Spiel beschäftigt ist. Diese Beobachtung ist instruktiv für Chantals Verständnis von Quantified Self: Für sie steht es für Beweglichkeit – seelisch wie körperlich – und Achtsamkeit. Die oft damit konnotierten Aspekte wie kapitalistisch motivierte Selbstoptimierung (schneller, weiter, gesünder!) und Produktivitätssteigerung lehnt sie ab.
Stress und schrumpfende Gehirne
Als Special Guest kündigte Andreas uns Steven Jonas an: Der Amerikaner aus Portland arbeitet für die unternehmerische Seite des QS und erzählt von seinen Erfahrungen mit stress monitoring: Mit einem emWave2 baute er sich einen Stress-Alarm. Sobald der Tracker ein gewisses Stresslevel bei Steven feststellt, schlägt er Alarm und fordert ihn auf, entsprechende Atemübungen zu machen. Denn: Stress lässt den Hippocampus schrumpfen. Das gelte es zu vermeiden.
Was hat Steven aus dieser Datenerhebung gelernt? Zunächst, dass ein niedrig gehaltenes Stresslevel trotz Arbeitszeit, die man durch Atemübungen verliert, einen mit mehr Energie in den Abend gehen lässt. Zweitens: Die Lektüre von reddit zwischendurch wirkt entspannend auf ihn. Drittens: Bei Überarbeitung hat Steven eine „learned helplessness“ entwickelt – er hat, weil er von seinem Manager nicht entlastet wurde, auch bei personeller Neubesetzung nicht nach Hilfe gefragt.
Der vielleicht größte Effekt auf Steven ist jedoch, dass er nun auch ohne die Benachrichtigung vom emWave2 in der Lage ist, Stress bei sich festzustellen. Er hat gelernt, seinen körperlichen Stressreaktionen nachzuspüren und auf sie einzugehen. Denn: entscheidend ist, wie man sich Stress gegenüber verhalten kann. Kontrollierter Stress sei nicht zwingend ungesund, während ein Gefühl des gestressten Ausgeliefertseins an Körper und Geist zehrt.
QS als sportliche Leistungserfassung
Den Abschluss machte Marco Verch. Lustig: Der Sportler kannte den Begriff Quantified Self bis zum Abend noch gar nicht, wendet die entsprechenden Methoden aber seit Jahren an, um sein Leistungsniveau beim Laufen zu überwachen. Sein Show & Tell-Vortrag illustrierte einleuchtend, wie sich seine Kondition vorm Berlinmarathon (inklusive Tal aufgrund Ermüdungsbruch) entwickelte. Danke, Marco!
Danach fachsimpelten die Neugierigen und Etablierten noch eine Weile, wie es sich für ein Meetup gehört. Insgesamt bleiben bei uns (nicht QS praktizierenden) Bibliotheksmenschen die folgenden Eindrücke haften:
- Quantified Self ist ein Thema, das gerade erst an Fahrt aufnimmt.
- Quantified Self ist etwas sehr persönliches. Die erzählten QS-Karrieren sind sehr subjektiv und teils sogar intim. Die Motivationen sind sehr unterschiedlich.
- Quantified Self weist kritische Seiten auf, die den Vortragenden auch bewusst sind. Wer mehr wissen möchten, dem empfehlen wir die Lektüre von Juli Zehs Corpus Delicti oder Dave Eggers Circle.
Wer QS einmal ausprobieren möchte, 10.000 Schritte am Tag jedoch zuviel erscheinen, dem empfehlen wir abschließend die Seite Unfitbits. :-) Bohrmaschine plus Fitbit = Win!
sa
P.S.: Wir danken Kölncampus für die Kooperation. You’re awesome! Die nächste geeks-Veranstaltung beschäftigt sich mit den unendlichen Weiten des Weltraums und findet am 16. November 2015 statt.
P.P.S. Am 9. November gibt es in der Stadtbibliothek Köln noch eine Veranstaltung zu den Themen Gesundheitskarte, Wellness-Apps und Fitness-Armbänder. Und zwar in Form eines Streitgesprächs mit Expertinnen und Experten: Gute Gesundheit – digital und smart?
Pingback: Noch 34 Wochen: Alles im grünen Bereich ✅ - Wüstenigel läuft·